Große Männer und kleine Züge*

Zu der Zeit, in der es weder (Heim-) Computer noch drahtlose Telefone gab, als ein Winter noch ein Winter war, in dem man sich Hände und Füße abfrieren konnte, eine Zeit, in der Mensch wie Maschine noch das Rauchen erlaubt und ganz und gar selbstverständlich war: in jener guten alten Zeit also geschah es jedes Jahr, wenn die Bäume ihre Blätter verloren hatten, die Tage länger und dunkler wurden und es somit unweigerlich auf den alljährlichen Höhepunkt des Winters (die Advents- und Weihnachtszeit) zuging - zu dieser Zeit also bekamen die Augen der meisten kleinen und großen Männer einen besonderen Glanz, wurden die Spielwarengeschäfte und -abteilungen der Kaufhäuser doch ihrer jährlichen Umgestaltung unterzogen: die Modelleisenbahn verdrängte Vieles und nahm den ihr zustehenden Platz ein. Bis hin zur Vorführanlage, auf der (seinerzeit) aktuelle Züge, mit Dampf-, Diesel und Elloks bespannt, unermüdlich ihre Runden drehten. Gar manche Eltern wurden an den Rand der Verzweiflung gebracht, wollten die Sprößlinge doch gar nicht mehr weiter gehen. Obwohl es auch das Gerücht (und bisweilen auch Anzeichen dafür) gab, daß auch die Väter sich nicht losreißen konnten und der Sohn nur als Begründung für längeres eigenes Verweilen vorgeschoben wurde...

Zu der Zeit also fand das Kind, an das hier gedacht wird, eine Modellbahnstartpackung unter dem Weihnachtsbaum vor. Dies hatte ungeahnte Folgen, hält sich doch hartnäckig das Gerücht, daß solche Startpackungen virenverseucht sind. Viren von einer Art, daß es bis heute weder ein Gegenmedikament oder gar eine Impfung gibt. Wieder und wieder taucht es in der einschlägigen Fachliteratur auf, ohne daß eine Heilungsmöglichkeit gefunden würde. Immerhin hat es, im Gegensatz zu so manch anderem Virus, einen treffenden Namen: in Fachkreisen ist es bekannt als virus mibanicus (frei übersetzt „Modellbahnvirus“). Einmal infiziert, wird man es nicht mehr los. Zumindest wurde bis heute noch keine Heilung dieser „Krankheit“ vermeldet.

In der oben erwähnten Zeit fand dieses Virus besonders häufige Verbreitung, war der „Krankheitsverlauf“ in vielen Fällen, fragt man heute bei den „Überlebenden“ nach, ähnlich: Zur Adventszeit wurde im Kinderzimmer geräumt, um etwa zwei mal ein Meter Fläche frei zu bekommen. Da hat sich dann der Vater „ausgetobt“ und eine Saisonanlage aufgebaut - mit Schienen, Häuschen (was damals identisch mit Faller-Häuschen war) und einer Landschaft - selbstverständlich nur und ausschließlich, um dem Sohn eine Freude zu bereiten. War die Weihnachtszeit vorbei, wurde die Anlage - unter Protest und Tränen des Kindes - abgebaut und weggeräumt. Monate später zu Anfang der nächsten Adventszeit begann das „Spiel“ von vorne. Leider existieren von diesen Anlagen weder Fotos noch Zeichnungen, nur wenige Faller-Häuser haben bis heute - teils heftig ramponiert - überlebt und halten so die Erinnerung an die frühe Kindheit wach.

Hatte man Glück, reichte es irgendwann zu einem Eisenbahnzimmer, in der Wohnung oder auch in einem trockenen Kellerraum. Hier wurden dann viele Stunden verbracht und, wenn man rückblickend an die seinerzeitigen Möglichkeiten denkt, hatte man doch eine ganz ordentliche Anlage im Bau - die aber meist nie fertig wurde. Vermutlich hat damals das Spielen - ähm ich meine natürlich das Fahren lassen der Züge nach einem (allerdings nicht vorhandenen) Fahrplan - mehr Freude bereitet als langwieriges Bauen.

Irgendwann ist auch die schönste Jugend vorbei, und es heißt von zuhause auszuziehen. Und plötzlich gibt es ein sehr wirkungsvolles Gegenmittel zum virus mibanicus: es nennt sich „das Leben“ und wirkt ganz einfach, in dem selbiges andere bzw. neue Prioritäten setzt. Es reicht zu keiner „richtigen“ Anlage mehr, sei es, weil kein Platz vorhanden ist, sei es, weil im passenden Moment umgezogen wird, sei es, weil einfach die Familie ihren Tribut fordert. So gehen Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte dahin; aber mibanicus hat Geduld, viel Geduld. Bis, ja bis das Pendel zurückschwingt, Verdrängtes aus dem Vergessen auftaucht, vielleicht in Form eines alten Fotos, vielleicht durch Auffinden eines der erwähnten Faller-Häuschen in einem Karton, vielleicht durch einen Zeitschriftenartikel oder was es alles an Erinnerungshilfen gibt.

Jedenfalls geht es nun wieder von vorne los; nun ja, nicht ganz von vorne. Trotz allem hat man mehr Erfahrung, und - hat man Glück - ist ein Grundstock in Form der aus der Kindheit stammenden Züge sowie Zubehör vorhanden, der sich weiter verwenden und erweitern läßt. Vieles hat sich verändert, und verwundert reibt man sich die Augen, wo sie denn hin ist, die gute alte Zeit, als man an der Hand der Eltern ins vorweihnachtliche Geschäft ging und mit großen Augen den Zügen auf der Vorführanlage nachsah, Wunschzettel mit ganz bestimmten Modellwünschen schrieb, und dann sehnlichst den Heiligen Abend erwartete, ob sich das denn auch unter dem Weihnachtsbaum einfinden würde. Wunschzettel schreibt man schon lange nicht mehr, die Geschäfte gibt es nicht mehr, und wer heute hat schon noch eine Dampflok in vollem Betrieb erlebt und kann die Gedanken nachfühlen, die man darob beim Betrachten eines fahrenden Modellzuges hat?

Nichts lebt lang. Nichts bleibt bestehen. Außer der Erde und den Bergen.** Es mögen solche Gedanken sein, die irgendwann unwillkürlich ins Gedächtnis strömen, wenn man die Jahre zurück blickt und sich dabei sicher sein kann, daß nicht noch einmal so viele Jahre folgen werden. Aber: so Gott will, wie meine Oma zu sagen pflegte, kommen deren noch viele. Jahre mit der Gelegenheit und Möglichkeit, die aus der Kindheit ins Alter mitgenommenen Wünsche und Träume zu verwirklichen. Vermutlich nicht in so großen Dimensionen, wie man in jungen Jahren überschwenglich phantasiert, sondern kleiner, bescheidener - eben altersgemäß gereift. Jahre, in denen es zu einer kleinen, aber feinen Anlage mit Gleisen, Zügen, Häusern und einer richtigen Landschaft reicht. Angesiedelt möglicherweise in einer Zeit, die man selbst erlebt hat, damals, als man selbst noch jung war, das Leben in unbekannten Fernen vor einem lag, unendliche Möglichkeiten zu bieten schien, und man mit großen Augen den kleinen Zügen nachsah. Damals, als man sich draußen noch Hände und Füße abfrieren konnte, als die Loks noch rauchten und Weihnachten eine Stimmung mit sich brachte, die man heute kaum noch nachfühlen kann. Als man nach dem Christkind oder dem Weihnachtsmann Ausschau hielt, die man, so sehr man sich auch anstrengte, nie zu Gesicht bekam, um dann später doch das Gewünschte unter dem Tannenbaum vorzufinden.

Nichts lebt lang. Nichts bleibt bestehen. Außer der Erde und den Bergen.**
Und vielleicht die Modellbahn, die ruhig ihre Kreise zieht, und Gedanken an eine bessere Welt und Zeit aufkommen läßt.

 

 

* = Der geneigten Leserin sei erklärt, daß seit Jahrzehnten das hier behandelte Thema fast ausschließlich nur Männer (kleine wie große) interessiert, wenige erfreuliche Ausnahmen bestätigen (leider) diese Regel; zahlreiche Appelle im Laufe der Jahre zur Änderung dieses Zustandes haben daran bisher nichts geändert.
** = vgl. Rosanne Bittner „Ride The Free Wind“, Zebra Books New York 1996, S. 208 und weitere, eigene Übersetzung

Ursprünglich geschrieben am 7. Oktober 2020

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Hoffnung geschieht jetzt. Sie ist der stetige Blick auf das Hauptsächliche, wenn es noch von Nebensächlichkeiten verdeckt ist. (Seite 273)

 

Cover: Das Haus der GeschichtenZum Inhalt

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Marvin war, als er das erfuhr, genauso erstaunt wie der geneigte Leser dieser Zeilen, und für beide wird es ein ganz besonderes Erlebnis herauszufinden, was es mit dieser narratorischen Apotheke denn auf sich hat. Bei dieser Suche spielen übrigens auch eine Katze namens Poseidon sowie Linnéa, die Enkelin des Antiquars, eine gewisse Rolle. Aber mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.  

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Normalerweise ist das erste, was bei einer Klostergründung gebaut wird, die Kirche; mit selbiger habe ich auch begonnen. Allerdings heißt es in der Anleitung ausdrücklich, die zusammengeklebten Teile gut durchtrocknen lassen. Die Wartezeit mußte also irgendwie überbrückt werden.

 

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